Wolfgang Huber – Der Dekalog heute. Fünf theologische Überlegungen zu den Zehn Geboten

Der Dekalog heute. Fünf theologische Überlegungen zu den Zehn Geboten

  1. Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst nicht andere Götter haben neben mir.
  2. Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht unnütz gebrauchen.
  3. Du sollst den Feiertag heiligen.
  4. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.
  5. Du sollst nicht töten.
  6. Du sollst nicht ehebrechen.
  7. Du sollst nicht stehlen.
  8. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
  9. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.
  10. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Vieh oder was sein ist.

(Die Zehn Gebote in der Fassung von Martin Luthers Kleinem Katechismus, 1529)

1. Vergessen

Ein Anruf in einem Bischofsbüro. Der Bischof war sogar selbst am Apparat. Eine Journalistin meldete sich: Plötzlich sei in der Redaktion die Rede auf die Zehn Gebote gekommen; doch keiner hätte deren Inhalt so ganz genau gekannt. Sie seien alle miteinander ins Stottern ge­kommen. Wo denn die Zehn Gebote überhaupt stünden, fragte sie noch, und wie man an den Text kommen könne.

Der Bischof sorgte für Abhilfe; nach wenigen Minuten war ein Fax mit den Zehn Geboten in der Redaktion. Um den Journalisten die Arbeit zu erleichtern, schickte er die Zehn Gebote in der kurzen Fassung, in der Martin Luther sie in seinen Katechismus aufgenommen hat. Denn dieser Katechismus sollte die Inhalte der christlichen Lehre, wie Luther sagte, in einer „klei­nen, schlichten, einfältigen Form“ darbieten. Luthers Zehn Gebote passen auf eine Seite. Für die biblische Fassung braucht man etwas mehr Platz. Sie findet sich in zwei Varianten im 20. Kapitel des 2. Buchs Mose, des Buchs Exodus, sowie im 5. Kapitel des 5. Buchs Mose, des Buchs Deuteronomium. Es ist wichtig, hier festzuhalten: Luthers Verdienst ist es nicht zuletzt, den Zehn Geboten eine kurz gefasste, katechismusartige Form zu geben, eine Form also, die auf eine DIN A 4-Seite passt und einer ahnungslosen Zeitungsredaktion von einem Bischof zugefaxt werden kann.

Doch ob kurz oder lang: der Inhalt der Zehn Gebote verschwimmt für viele im Ungefähren. Noch vor wenigen Generationen waren sie den allermeisten geläufig; heute dagegen sind sie weithin unbekannt geworden. Es ist nicht mehr selbstverständlich, mit ihnen aufzuwachsen. Das Auswendiglernen galt eine Zeitlang sowieso als unmodern; da half auch Martin Luthers Kurzfassung nichts.

Doch dass die Zehn Gebote wie andere biblische Schlüsseltexte nicht mehr allen vertraut sind, enthält auch eine Chance. Man kann sich neu mit ihnen befassen. Das geschieht auf besondere Weise mit dem Projekt, dessen Auftakt wir heute Abend begehen. Die Chancen für solche Versuche sind günstig. Wir erleben ein neues Interesse an verlässlichen Normen; die Suche nach Sinn und Halt treibt viele Menschen um.

2. Das elfte Gebot

Eine Serie der Fernseh-Talkrunde Tacheles widmete sich den Zehn Geboten. Junge Leute wurden in diesem Zusammenhang gefragt, welche Gebote ihnen die wichtigsten seien: „Du sollst nicht töten“ hieß eine häufige Antwort. Und: „Du sollst Vater und Mutter ehren.“ Welche Gebote hinzugefügt werden sollten, wurden sie auch gefragt. Sie antworteten: „Du sollst die Kinder achten.“ oder: „Du sollst die Umwelt für Deine Nachkommen bewahren.“ Eindrucksvoll antwortete auch die Agnostikerin Thea Dorn auf die Frage nach einem elften Gebot: „Du sollst deine Lebenszeit nicht nutzlos verbringen.“ Und weniger ernsthaft, aber auch des Nachdenkens wert, der verstorbene Dichter Robert Gernhardt: „Du sollst nicht lär­men.“ Am bekanntesten unter den Vorschlägen für ein elftes Gebot ist ohne Zweifel der schlichte Rat: „Du sollst dich nicht erwischen lassen.“

Doch es gibt noch weit ernsthaftere Antworten auf die Frage nach dem 11. Gebot. Nach dem Bericht des Johannes-Evangeliums sagt Jesus zu seinen Jüngern unmittelbar vor Beginn des Passionsgeschehens: „Ein neues Gebot gebe ich euch, dass ihr euch untereinander liebt, wie ich euch geliebt habe, damit auch ihr einander lieb habt. Daran wird jedermann erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr Liebe untereinander habt“ (Johannes 13,34). Hier wird das Liebesgebot pointiert als ein neues Gebot eingeführt und als das Charakteristikum der Jünger­gemeinschaft schlechthin dargestellt. In der christlichen Auslegungsgeschichte des Dekalogs hat sich das mit einer antijudaistischen Tendenz verbunden, die sich die Gegenüber­stellung von Geist und Buchstaben bei Paulus zu Nutze machte. Christen werden an dieser Stelle als „Diener des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes“ bezeichnet. „Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“ (2. Korinther 3,5). In der Auslegungsge­schichte setzte man Buchstabe und Gesetz gleich. Als tötender Buchstabe galt das Gesetz, als lebendig machender Geist das Evangelium. Dessen Inhalt wurde im neuen Gebot, dem Gebot der Liebe gefasst.

Wir wissen heute, dass der Antijudaismus, der sich mit einer solchen Vorstellung von einem neuen Gebot verband, ein Irrweg war. Oder muss ich sagen: Er ist ein solcher Irrweg, da er doch keineswegs an allen Orten als überholt gelten kann? Unter den vielen Gründen, die gegen diese Vorstellung vom neuen Gebot geltend gemacht werden müssen, hebe ich nur zwei hervor: Zum einen ist auch dem Neuen Testament vertraut, dass das Liebesgebot kein neues Gebot ist. Die ersten drei Evangelien führen vielmehr das Liebesgebot ausdrücklich in der Form ein, dass sie die Hebräische Bibel zitieren. Jesu Zusammenfassung aller Gebote in dem höchsten Gebot verbindet zwei Zitate aus dem fünften und dem dritten Buch Mose: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt. Dies ist das höchste und größte Gebot. Das andere aber ist dem gleich. Du sollst dei­nen Nächsten lieben wie dich selbst. In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten“ (Matthäus 22,37-40). Dieses Doppelgebot der Liebe, das seinem Inhalt nach ein Dreifachgebot ist – es handelt nämlich von der Liebe zu Gott, zum Nächsten und zu sich selbst –, verdankt sich der Hebräischen Bibel. Wenn das Johannes-Evangelium einen be­stimmten Aspekt dieses Gebots – dass die Jünger Jesu einander lieben – zu einem „neuen Gebot“ erklärt, kann damit nur gemeint sein, dass in der Liebe zum Nächsten die Liebestat Jesu bezeugt wird, in der Gottes Liebe auf neue Weise in die Welt getreten ist – „wie ich euch geliebt habe, damit ihr euch untereinander lieb habt“.

Ein anderer, hier zu erwähnender Grund dafür, dass die antijudaistische Vorstellung von dem gesetzlichen Charakter des Dekalogs, der durch das Liebesethos Jesu überholt und über­wun­den werde, nicht zu halten ist, liegt darin, dass damit das jüdische Verständnis des Deka­logs in keiner Weise getroffen wird. Die zehn Worte gelten dem Judentum nicht als Mittel der Selbstrechtfertigung, wie man im Anschluss an die Rechtfertigungslehre des Paulus meinte; sie waren auch nicht, wie Luther im Anschluss an diese Lehre erklärte, das Mittel, um den Menschen seiner Sündhaftigkeit zu überführen; sie hatten nicht den pädagogischen Zweck, ihm vor Augen zu stellen, dass er allein auf Gottes Gnade angewiesen ist. Die zehn Worte waren vielmehr wegweisende Lehre, Hilfe zum Leben – eben Tora. Als so wichtig wurde dieser Aspekt der Gottesoffenbarung für Mose am Sinai angesehen, dass er dem Gesamt­kor­pus der Geschichtswerke im Kanon der hebräischen Bibel den Namen gab. Sie heißen insge­samt Tora; die Bundesweisung Gottes für sein Volk bildet ihren Kern. Deshalb kann es keine christliche Aneignung des Dekalogs an der Einsicht vorbei geben, was er für den jüdi­schen Glauben bedeutet. In ihm zeigt sich sowohl die Zusammengehörigkeit als auch der Unter­schied der zwei Glaubensweisen, als die Martin Buber Judentum und Christentum be­zeichnet hat. Auch die kulturelle Ausstrahlung des Dekalogs über diese beiden Glaubens­weisen hinaus erschließt sich nur auf der Grundlage von deren differenter Einheit.

3. Die Einzigkeit Gottes

Nur noch selten wird bedacht, dass die Zehn Gebote mit keiner der so oft zitierten Auffor­derungen beginnen. Sie beginnen überhaupt nicht mit einem Gebot. Ihr erster Satz heißt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Am Anfang steht die Erinnerung an Gottes rettendes Handeln. Mit der Befreiung aus der Sklaverei fängt alles an. Gott begegnet in seinem Handeln. Erst auf diese Selbstvorstellung Gottes folgt die erste Aufforderung, das erste Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So wie die Einleitung unterschätzt wird: die Zusage der Freiheit, so wird auch das erste Gebot unterschätzt: die Wegweisung der Freiheit. Ich sehe Martin Luthers größten Bei­trag zum Verstehen des Dekalogs in der Intensität, in der er sich dem ersten Gebot zuwendet. Die ersten Sätze, mit denen er im Großen Katechismus das Fremdgötterverbot auslegt, sind epochal. Er wendet das Gebot sofort ins Positive: „Das heißt, du sollst mich alleine für deinen Gott halten. Was wird hier gesagt, und wie soll man es verstehen? Was heißt, einen Gott haben; oder was ist Gott? Antwort: Einen Gott nennt man den, von dem man alles Gute er­warten soll und Zuflucht haben in allen Nöten. So dass einen Gott haben nichts anderes heißt, als ihm von Herzen trauen und glauben, denn, wie ich oft gesagt habe, allein das Vertrauen und Glauben des Herzens macht beides, Gott und Abgott. Ist der Glaube und das Vertrauen recht, so ist auch dein Gott recht, und wiederum, wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch der rechte Gott nicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran du nun (sage ich) dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, das ist eigentlich dein Gott.“

„Einen Gott haben, heißt, ihm von Herzen trauen und ihm glauben. Woran du dein Herz hängst, das ist eigentlich dein Gott.“ Wer diese Schlüsselsätze in Luthers Auslegung des ersten Gebots auf sich wirken lässt, kann kaum sagen, sie seien überholt, weil doch auch die Gottesfrage überholt sei. Man stößt, wenn man diesen Sätzen Raum gibt, eher auf die gegen­teilige Feststellung: Die so verstandene Gottesfrage ist von unüberbietbarer Aktualität. Die Freiheit des Glaubens gründet darin, dass wir Gott trauen, von ihm das Gute erwarten und bei ihm in allen Nöten Zuflucht finden. Dieser Glaube bewährt sich in der Freiheit von falschen Göttern. Der Frage, ob das, woran man sein Herz hängt, ein falscher Gott ist, lässt sich nur schwer ausweichen. Woran erkennt man die falschen Götter? Daran, dass sie Menschen knechten, ihnen die Freiheit rauben, sie abhängig machen.

Die Aufforderung, Gott allein die Ehre zu geben, wird gleich zu Beginn des Dekalogs in Ver­boten konkretisiert. Eine Missachtung des einen Gottes besteht nicht nur in der Verehrung anderer Götter, sondern ebenso darin, dass Gott im Bild verehrt oder dass sein Name miss­braucht wird. Das Bilderverbot hat es mit der Vergöttlichung des Bildes beziehungsweise mit der Vergegenständlichung Gottes zu tun. Der Gedanke genereller Bildlosigkeit oder eine grundsätzliche Alternative zwischen Wortkultur und Bildkultur ist im Dekalog – und übrigens auch in seiner lutherischen (im Unterschied zur calvinistischen) Rezeption – noch nicht ange­legt.

Sehr wohl aber kann man ihm eine Aufforderung dazu entnehmen, die Rumpelkammer der eigenen religiösen oder religionsähnlichen Vorstellungen aufzuräumen und zu prüfen, woran man „sein Herz hängt“. Zu dieser religiösen Aufräumarbeit gehört der Abschied von allzu schlichten Gottesbildern, die sich von Generation zu Generation vererben. Die Bilder von einem bärtigen Greis in wolkiger Höhe beispielsweise sind nicht biblisch, sondern griechisch, nämlich aus Darstellungen des Göttervaters Zeus abgeleitet. Zu dieser Aufräumarbeit gehört aber vor allem das Misstrauen gegen die Netze und Fallen der Götzen, die Menschen dazu zwingen wollen, sich oder die eigenen Kinder in ihren Rachen zu werfen. Die Götter der Nation und des Erfolgs, des militärischen oder des wirtschaftlichen Triumphs, die Götter von Rasse oder Klasse – kurzum die Neigung, Maßstäbe dieser Welt über alles und jedes herr­schen zu lassen – all das zeigt, worum es im Auftakt des Dekalogs geht: um den Sinn für Pro­portion, ohne den menschliche Freiheit nicht auskommt.

4. Wegweisung der Freiheit

Nach den konzentrierten Geboten zum Verhältnis des Menschen zu Gott wird diese Freiheit zunächst in zwei Richtungen genauer beschrieben: zum einen im Verhältnis zur Zeit, zum andern im Verhältnis der Generationen zueinander. Das Feiertagsgebot und das Elterngebot sind die beiden einzigen Gebote, die positiv formuliert sind. Sie untersagen nicht, wie alle anderen Gebote, sondern weisen einen Weg. Sie geben an, was man tun, nicht was man unter­lassen soll.

Im Rhythmus der Woche hebt die Bibel einen Tag als Sinnbild, ja Garanten der Freiheit her­vor: den Sabbat, den Tag der Arbeitsruhe. Die kollektive Arbeitsunterbrechung wird so hoch gewertet, dass nicht nur die Menschen, sondern auch die Tiere an ihr Anteil haben. So wichtig ist dieser Tag, dass sogar das Schöpfungswerk Gottes an ihm ausgerichtet wird. Das Sechs­tagewerk, in dessen Bild das Geschehen der Schöpfung gefasst wird, findet seinen Abschluss in einem Tag der Ruhe. Es hat deshalb einen guten Grund, nicht den Menschen, sondern die­sen Ruhetag als „Krone der Schöpfung“ zu beschreiben. Im Christentum wurde dieser Ruhe­tag mit dem Sonntag verbunden, dem Tag der Auferstehung Jesu von den Toten. Der Ruhetag wurde mit dem Tag des Gottesdienstes zusammengeführt. Die Freiheit von der Arbeit verband sich mit der Freiheit zum Glauben.

Obwohl sich seitdem die Lebensverhältnisse sehr stark verändert haben, wurde der Rhythmus der Siebentagewoche, dieser Herzschlag der Freiheit, bewahrt. Sowohl in der Französischen Revolution von 1789 als auch in der Bolschewistischen Oktoberrevolution von 1917 wurde versucht, die Siebentagewoche in eine Zehntagewoche zu verändern; doch diese Versuche setzten sich nicht durch. Ein solches Vorhaben mochte für eine Welt, die an das Zehnersystem gewohnt ist, rational klingen. Doch es ging am Rhythmus des Lebens, am Herzschlag der Freiheit vorbei. Auch für diejenigen, die sich ganz und gar in einem säkularen Leben einrich­ten wollen, bleibt der freie Tag – der Sabbat, der Sonntag – ein Geschenk. Ihn zu heiligen, ist deshalb eine großartige Aufgabe für alle, denen das Heilige überhaupt etwas bedeutet. Die säkulare Verfassung kann dagegen gar nicht anders, als den Begriff des Heiligen weiträumig zu umgehen. Sie sagt: „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt“ (Art. 139 Weimarer Reichsverfassung in Verbindung mit Art. 140 Grundgesetz). Das ist keineswegs eine leer laufende Verfassungsbestimmung, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 1. Dezember 2009 zur Ladenöffnung an den Adventssonntagen in Berlin verdeutlicht hat. So entfaltet die Wegweisung der Freiheit Auswirkungen bis in die säkulare Rechtsordnung hinein.

Das gilt in anderer Weise auch vom vierten Gebot: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird“ (2. Mose 20,12). Der Wortlaut des Gebots knüpft an die Situation an, in die hinein dem Volk Israel die Gebote gegeben werden: am Berg Sinai, in der Zeit der Wüstenwanderung auf dem Weg in das gelobte Land, in dem Milch und Honig fließen sollen. Die zukünftige Existenz in diesem verheißenen Land wird an die Voraussetzung gebunden, Vater und Mutter zu ehren.

Eine nach wie vor verbreitete Auslegung dieses Gebots sagt, damit sei der Gehorsam heran­wachsender Kinder gegenüber ihren Erziehungsberechtigten gemeint. Beispielhaft ist die Aus­legung dieses Gebots in Martin Luthers Großem Katechismus. Luther sieht in diesem Gebot das „große, gute und heilige Werk“ dargestellt, das den Kindern auferlegt sei. Den kindlichen Gehorsam gegenüber den Eltern setzt er dabei in Parallele zu dem Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, wie die Formulierung des Kleinen Katechismus bündig belegt: „Wir sollen Gott fürchten und lieben, dass wir unsere Eltern und Herren nicht verachten noch erzürnen, son­dern sie in Ehren halten, ihnen dienen, gehorchen, sie lieb und wert haben.“ Es ist neben der Anknüpfung an das Obrigkeitskapitel im Römerbrief des Paulus (Kap. 13) vor allem diese Auslegung des vierten Gebots, durch die das Luthertum als Religion des Obrigkeitsgehorsams in die Geschichte eingegangen ist. Der kindliche Gehorsam gegenüber den Eltern und der Untertanengehorsam gegenüber der Obrigkeit werden parallelisiert. Neben der Fehldeutung des vierten Gebots hat Luther, wie zuletzt Heinz Schilling gezeigt hat, zu der Ausbildung dieses Obrigkeitsgehorsams nicht so viel beigetragen, wie manche seiner Kritiker meinen. Aber immerhin: Diese bereits vor seiner Zeit angebahnte Fehldeutung hat der meisterhafte Bibelexeget leider nicht durchschaut.

Dabei ist das nicht allzu schwer. Denn der Dekalog richtet sich ursprünglich nicht an Kinder oder Jugendliche, sondern an erwachsene Israeliten. Das Thema des vierten Gebots ist das Verhalten Erwachsener gegenüber der alt gewordenen Elterngeneration. Der Auftrag, die Eltern zu ehren, lässt sich gemäß der Grundbedeutung des entsprechenden hebräischen Worts am besten als Aufforderung fassen, sie „als gewichtig anzuerkennen“ (Matthias Köckert). Es geht nicht um bloße Worte, auch nicht um einmalige Ehrbezeugungen. Der Respekt, der den Eltern gebührt, schließt nicht nur die Nachsicht gegenüber ihrer nachlassenden Leistungs­fähigkeit, sondern auch die Bereitschaft ein, sie zu unterstützen: „Kind, unterstütze deinen Vater im Alter und kränke ihn nicht, solange er lebt. Wenn sein Verstand nachlässt, übe Nachsicht und entwürdige ihn nicht in deiner ganzen Kraft“ (Jesus Sirach 3,12f.).

Zu der gebotenen Unterstützung gehört die Verpflichtung, für die Versorgung der Eltern auf­zukommen, wenn sie nicht mehr für sich selbst sorgen können. In Gesellschaften, für die eine staatlich gesicherte Altersversorgung noch in weiter Feme liegt, lässt sich die Versorgung der Alten nur durch einen unmittelbaren, personengebundenen Generationenvertrag sicher­stellen. Er ist lebenswichtig; denn die Alternative besteht, wie Sagen aus nomadischer Zeit noch er­kennen lassen, in der Aussetzung oder gar Tötung der Alten, die nicht mehr mithalten können. Wer sich darüber wundert, dass das Elterngebot im Dekalog dem Tötungsverbot vorausgeht, muss sich diese elementare, lebensnotwendige Bedeutung vergegenwärtigen, die dem Einsatz der Jüngeren für die Älteren zukommt.

Die Dringlichkeit dieses Gebots wird dadurch unterstrichen, dass die Jüngeren auf ihre eigene Lebensperspektive hingewiesen werden. Die Aussicht, lange im verheißenen Land leben zu können, haben sie nämlich nur dann, wenn sie von ihren Kindern ein vergleichbares Handeln erwarten können, wie es ihnen im Blick auf ihre eigenen Eltern geboten wird. Das wird bei einem griechischen Autor des 4. vorchristlichen Jahrhunderts in Gestalt einer Goldenen Regel für das Generationenverhältnis formuliert: „Verhalte dich gegenüber deinen Eltern so, wie du möchtest, dass sich deine eigenen Kinder dir gegenüber verhalten“ (Pseudo-Isokrates).

Die Goldene Regel zielt auf eine Ethik der Gegenseitigkeit: „Was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch“ (Matthäus 7,12). Da sie einen formalen Charakter trägt, verzichtet sie auf eine ausdrückliche Klärung der Frage, ob alle Wünsche, die man für sich selbst hat, moralisch richtig oder ethisch gut sind. Doch der Sinn der Goldenen Regel er­schließt sich nur dann, wenn man unterstellt, dass es sich um moralisch und ethisch vertret­bare Wünsche handelt. Ebenso wichtig ist die Einsicht, dass die Goldene Regel nicht eine schlichte Tauschmoral repräsentiert, der man einen naiven Egoismus unterstellen könnte. Das zeigt sich an der Anwendung dieser Regel auf Familienbeziehungen besonders deutlich. Schon hier geht es um mehr als nur um eine unmittelbare Reziprozität zwischen Individuen oder Gruppen, die sich wechselseitig unterstützen; es handelt sich auch nicht nur um eine aufgeschobene Reziprozität wie in der Beziehung zwischen Eltern und Kindern, in der Eltern zu einem späteren Zeitpunkt eine Gegenleistung für das erhoffen, was sie beim Aufwachsen ihrer Kinder geleistet haben. Schon Familienbeziehungen zeigen vielmehr Züge einer genera­lisierten Reziprozität, die anderen gegenüber praktiziert, was auch für das eigene Leben er­hofft wird: Hilfe für denjenigen, der schlechter gestellt ist und der Unterstützung bedarf. Es geht um mehr als um die Erwartung direkter Gegenseitigkeit. Es geht um die Hoffnung auf gelingendes Leben; dafür ist ein entscheidender Maßstab, dass die Schwächeren einbezogen werden.

Der Beistand für pflegebedürftige Ältere ist dafür ein wichtiges Beispiel. In bäuerlich gepräg­ten Traditionen hat er seinen Ort in der Mehrgenerationenfamilie. Die Sicherung für das Alter wird in festen Institutionen der bäuerlichen Welt wie dem Altenteil verbürgt, das der Genera­tion, die den Hof zu Lebzeiten an die nächste Generation weitergibt, Wohnung und Rente zu­erkennt. Der Prozess der Industrialisierung löste derartige Strukturen auf; die Alterssicherung wurde zu einer Aufgabe der als Solidargemeinschaft verstandenen Gesellschaft. Der Genera­tionenvertrag wurde entpersonalisiert; die Gegenseitigkeit wurde in einem bis in das 19. Jahr­hundert unbekannten Maß generalisiert. Unterstützung für den unbekannten Nächsten war nicht mehr ein Akt barmherziger Nächstenliebe; sondern sie wurde zu einem Teil gesell­schaftlicher Gerechtigkeit. Vorausgesetzt war dabei ein Verhältnis der Generationen zuein­ander, in dem die aktive Generation weit größer war als die Generation der Versorgungsem­pfänger. Das verändert sich heute in einem Tempo, von dem man noch vor wenigen Jahrzehn­ten nichts geahnt hat. Umso brisanter wird das vierte Gebot.

Denn auch heute bleibt es – allen dramatischen Wandlungen der Familienformen und den darüber angestimmten Klagen zum Trotz – vor allem Sohnes- oder Tochterpflicht, die Hilfs­bedürftigkeit der eigenen Eltern wahrzunehmen und Wege der Hilfe zu finden. Nicht immer wird sich diese Pflicht so erfüllen lassen, dass die Jüngeren ihren eigenen Lebensplan um­stellen und diese Hilfe selbst leisten oder sich jedenfalls an ihr beteiligen können. Es gibt darüber hinaus Situationen, denen nur professionelle Pflegerinnen und Pfleger gewachsen sind. Doch viele nehmen auch über große räumliche Entfernungen hinweg regelmäßig am Leben der Elterngeneration Anteil. Sie zeigen dadurch: Die veränderten Lebensumstände lassen die grundsätzliche Verpflichtung, Verantwortung nicht nur für die folgende, sondern auch für die vorangehende Generation wahrzunehmen, unberührt.

5. Grenzen sichern die Freiheit

Auch wenn man die zehn Gebote als Wegweisung der Freiheit deutet, lässt sich nicht be­streiten, dass sie Grenzen setzen: „Du sollst nicht … du sollst nicht“. Es stimmt auch: Die Bewahrung der Freiheit schließt die Achtung von Grenzen ein. Dass die Freiheit grenzenlos sei, ist nur ein Traum. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein“ singt Rein­hard Mey in einem seiner bekanntesten Lieder. Aber auch wenn die Menschheit das Fliegen gelernt hat, findet das Leben trotzdem noch auf der Erde statt: auf begrenztem Raum, in be­grenzter Freiheit.

Darin zeigt sich bereits der positive Sinn der grenzziehenden Gebote. Franz Rosenzweig hat ihn so beschrieben: Die Verbote sind nichts anderes als eine „Absteckung von Grenzen des­sen, was keinesfalls mit der Liebe zum Nächsten vereinbar ist …; ihr Positives, ihr ‚Du sollst‘ geht einzig in die Form des einen und allgemeinen Gebots der Liebe ein.“ So betrachtet schränken diese Grenzziehungen die Freiheit nicht ein, sondern machen sie möglich. Beson­ders deutlich zeigt sich das im fünften Gebot, das dem Schutz des menschlichen Lebens gilt: „Du sollst nicht töten!“ Nur wo die Integrität des menschlichen Lebens gewahrt wird, kann von Freiheit überhaupt die Rede sein. Deshalb ist die Unantastbarkeit des menschlichen Lebens ein hohes Gut; die vorsätzliche oder fahrlässige Tötung eines Menschen wird ausge­schlossen.

Trotzdem entbrennt immer wieder Streit darüber, wie weit das Tötungsverbot reicht. Neue medizinische Möglichkeiten werfen die Frage nach dem Schutz des vorgeburtlichen Lebens auf: Dürfen unter künstlich hergestellten Embryonen diejenigen ausgewählt werden, die der Mutter eingepflanzt werden sollen? Darf eine ungeplante Schwangerschaft beendet werden? Und was ist, wenn eine Diagnose während der Schwangerschaft auf einen genetischen Defekt hindeutet? Leicht zu beantworten sind solche Fragen nicht. Doch auch über werdendes menschliches Leben können wir nicht nach Belieben verfügen; wir haben es in seinem Eigen­wert zu achten. Auch die Verbotsformulierung – dem sprachlichen Sinn nach sogar als „Mordverbot“ – enthält eine positive Weisung: Du sollst das Leben achten.

Das ist auch im Blick auf das Ende des Lebens die entscheidende Perspektive: Dürfen bei unheilbaren Krankheiten lebensverlängernde Maßnahmen eingestellt werden? Darf mensch­liches Leben durch „aktive Sterbehilfe“ beendet werden? Das biblische Gebot hält dazu an, solche Fragen vom Vorrang des Lebens her zu beantworten. So wie das Leben hat auch das Sterben seine Zeit. Das Sterben ist zuzulassen, wenn es an der Zeit ist; das Leben unter allen Umständen zu verlängern, ist kein Dienst am Leben. Doch davon ist die Forderung nach einer ärztlichen Unterstützung beim Suizid oder gar nach der Tötung auf Verlangen zu unterschei­den. Damit wird der Tod zur menschlichen Tat. Das ärztliche Ethos, das auf die Bewahrung des Lebens, auf Helfen und Heilen gerichtet ist, würde so in seinem Kern beschädigt.

Neben die Integrität des menschlichen Lebens tritt die Integrität der menschlichen Lebensbe­ziehungen. Verlässlichkeit und Verantwortung sind für alle menschlichen Beziehungen uner­lässlich. In Beziehungen wechselseitiger Verantwortung einzudringen oder aus ihnen hinter dem Rücken der Partnerin oder des Partners auszubrechen, ist deshalb Verrat. Der Wandel der Lebensformen, den wir durchlaufen, ändert an dieser grundlegenden Einsicht nichts. Bezie­hungen können scheitern; in ausweglosen Situationen bleibt nur übrig, ein solches Scheitern einzugestehen. Aber dauerhafte Partnerschaften dürfen nicht mutwillig aufgekündigt werden; das ist und bleibt ein Bruch der Treue. Der so erschlossene Sinn des sechsten Gebots meint also mehr als die Absicherung einer bestimmten institutionellen Form menschlicher Bezie­hung, nämlich der Ehe. Der Schutz richtet sich auf die unterschiedlichen Formen, in denen Menschen füreinander Verantwortung übernehmen und einander Treue geloben. Man kann von diesem Gebot auch einen neuen Zugang zur Kultur der Freundschaft entwickeln, zu deren Wesen es nach einer wichtigen Formulierung von Hanna Barbara Gerl-Falkovitz gehört, dass sie keiner Institutionalisierung bedarf.

Erstaunlich ist, wie ausführlich die Zehn Gebote das Eigentum schützen. Das siebte Gebot verbietet das Stehlen. Das reicht von der heimlichen Entwendung von Gegenständen über den Raub von Tieren bis hin zur Freiheitsberaubung von Menschen. Vom Straßendiebstahl über den Wohnungseinbruch bis zur Geiselnahme reicht die Spannweite dieses Eindringens in die Freiheitssphäre eines anderen.

Die letzten drei Gebote entfalten, wie Hermann Deuser das genannt hat, ein Habgier­ und Willkürverbot; sie beziehen die Affektkontrolle in den Kanon des Gebotenen ein. Das betrifft zunächst einmal das Begehren. Im biblischen Verständnis sind damit alle Schritte vom Wunsch über die Planung bis zur Ausführung einer Tat gemeint, mit der man sich in den Besitz einer Sache oder eines Menschen bringt, die einem nicht zustehen. Es geht um die widerrechtliche Aneignung oder unrechtmäßige Nutzung dessen, was anderen Menschen gehört. Der Bogen wird damit noch weiter gespannt als beim Verbot des Ehebruchs oder des Diebstahls. Eingeschlossen ist nun ausdrücklich, was wir heute die „Unverletzlichkeit der Wohnung“ nennen. Aber eingeschlossen ist ebenso, was wir die Unverletzlichkeit der Ehre nennen müssen. Die würdelose Behandlung eines anderen aus Habgier oder sexuellem Begeh­ren ist durch das Ethos des Dekalogs ausgeschlossen. Der Maßstab dafür liegt nicht in der Frage einer strafrechtlichen Relevanz, sondern im Respekt für die Integrität des Anderen. Le­gale Tricks, Andere um ihre Lebensgrundlage zu bringen, kommen in den Blick; Steuerhin­ter­ziehung, Subventionsbetrug oder Korruption sind unter heutigen Bedingungen ohne Zwei­fel in den Geltungsbereich des zehnten Gebots einzubeziehen.

Eine besondere Stellung nimmt das Verbot ein, „falsch Zeugnis zu reden“. Es hat seinen ursprünglichen Ort im Gerichtsverfahren. Wer als Zeuge die Unwahrheit sagt, gefährdet dadurch das Leben oder die Existenzgrundlage des anderen. Er macht ihn willkürlich zum Opfer eines lebensgefährlichen Fehlurteils. Deshalb wird diese niederträchtige Form des Lügens eigens hervorgehoben. Im Verfahren vor Gericht zeigt sich besonders deutlich, wie eng Wahrheit und sozialer Zusammenhalt miteinander verbunden sind.

Die Wahrheitspflicht ist deshalb mehr als eine persönliche Tugendhaftigkeit; sie ergibt sich aus der Verantwortung für das gemeinsame Leben. Freilich gibt es auch eine Art, nach der Wahrheit zu fragen, durch die das gemeinsame Leben gefährdet oder sogar zerstört wird; Dietrich Bonhoeffer hat das auf besonders markante Weise hervorgehoben. Weil es uner­laubte Fragen gibt, ist niemand verpflichtet, auf jede Frage zu antworten. Vielmehr gilt: Was du sagst, muss wahr sein; aber du brauchst nicht alles zu sagen, was wahr ist. Es gibt auch eine Pflicht zur Verschwiegenheit; wer sie verletzt, zerstört menschliche Beziehungen genau­so wie derjenige, der vorsätzlich lügt. Zwar verletzt jede Lüge die Ehre des Gesprächspart­ners; doch es gibt auch Fragen, die mit dem Gebot, niemanden zu schädigen, unvereinbar sind.

Vielleicht ist das der Grund, aus dem sich unter den zehn Geboten nicht einfach der Satz findet: „Du sollst nicht lügen.“ Vielleicht wäre es sogar besser, in diesem Fall nicht ein Verbot, sondern ein Gebot zu formulieren: „Sei stets aufrichtig!“

Die Zehn Gebote enthalten keine umfassende Beschreibung der menschlichen Moral. Sie lösen nicht alle Probleme, die sich heute für verantwortliches Handeln stellen. Aber sie sind genau deshalb ein guter Wegweiser, weil sie die Zusage der Freiheit mit der Bewahrung der Freiheit verbinden. So schützen die Zehn Gebote die menschliche Freiheit. Darin sind sie aktuell. Das wollte ich mit diesen fünf theologischen Überlegungen verdeutlichen.

Impulsvortrag zur Auftaktveranstaltung des DEKALOG-PROJEKTES der Guardini-Stiftung und der Stiftung St. Matthäus Neue Nationalgalerie Berlin, 16. April 2013.

Wolfgang Huber, Professor für Theologie in Berlin, Heidelberg und Stellenbosch (Südafrika), war Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz und Vorsitzender des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland sowie Mitglied des Deutschen Ethikrats.