Ernst Lange, Die zehn großen Freiheiten (1958)

Die zehn großen Freiheiten

Von Ernst Lange

Auf die Frage, was das Christentum sei, antwortete ein Junge: »Christentum ist das, was man nicht darf.« So denken viele. Und wenn man sie nach dem Grund für diese merkwürdige Ansicht fragt, reden sie von den Zehn Geboten: »Da heißt es doch immer ›Du sollst nicht‹!«

Was für ein ungeheuerliches Missverständnis! Gott ist kein Zwingherr, sondern der Befreier. Er befreite sein Volk Israel aus der Knechtschaft in Ägypten. Dann führte er es zum Berg Sinai. Und vom Berg Sinai aus machte er ihm klar, wie groß die Freiheit ist, die man mit Gott hat. Er machte ihnen das klar in zehn Sät­zen.

Acht von diesen zehn Sätzen beginnen mit »Du wirst nicht…« Zwei beginnen mit »Du wirst…« Keiner beginnt mit »Es ist verboten…« Sondern alle fangen an: »Ich, Gott, und du, Mensch, wir gehören jetzt zusammen. Und wenn wir zusammenbleiben, dann wird dein Leben folgendermaßen aussehen: Du wirst keine anderen Götter haben, Du wirst meinem Namen Ehre machen. Du wirst dich nicht zu Tode hetzen, Du wirst in deiner Familie ein menschliches Leben finden …« Und so weiter.

Die Zehn Gebote sind die zehn Artikel der großen Freiheit, die Gott schenkt.

1. Ich bin der Herr, dein Gott: du wirst keine anderen Götter haben!

Du brauchst keine Angst zu haben! Weder vor der Macht der Sterne noch vor der Macht der Menschen, weder um dein Geld noch um dein Ver­gnügen. Wenn du dein Herz an diese Dinge hängst, wirst du zum Sklaven. Ich, der allmächtige Gott, will dein Helfer sein. Halte dich an mich, und du bleibst frei.

2. Ich bin der Herr, dein Gott: du wirst dir von mir kein Bildnis machen!

Du brauchst dir nichts einreden zu las­sen! Weder von den Sektenpredigern noch von den Weltanschauungsapos­teln, weder von den ewigen Weltver­besserern noch von den hemmungs­losen Egoisten. Sie machen sich alle ein falsches Bild von Gott, von der Welt, von sich selbst. Ich, der allmächtige Gott, will dein Lehrer sein. Halte dich an mein Wort, es ist Wahrheit.

3. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst meinen Namen nicht missbrauchen!

Du brauchst mich nicht zu zwingen, dir zu helfen! Weder durch fromme Leistungen noch durch törichte Beschwörungen, weder durch scheinheiliges Gerede noch durch christliche Bemäntelung deiner eigennützigen Ziele. Denn das alles heißt: Schindluder trei­ben mit meinem Namen. Ich, der allmächtige Gott, bin ganz freiwillig dein Freund. Halte dich an mich, dein Gebet ist nicht vergeblich.

4. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst den Feiertag heiligen!

Du brauchst dich nicht zu Tode hetzen! Weder durch pausenloses Arbeiten noch durch eine pausenlose Vergnü­gungsjagd, weder durch die Sorgen, die du dir machst, noch durch die Angst, du könntest etwas versäumen. Das alles bringt dich nur in eine heil­lose Verkrampfung und nimmt dir alle Lebensfreude. Ich, der allmächtige Gott, will dein Meister sein. Halte dich an mich, und dein Leben wird Erfüllung finden.

5. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst Vater und Mutter ehren!

Du brauchst nicht in ständiger Aufleh­nung zu leben! Weder gegen deine Eltern noch gegen deine Lehrer, weder gegen das, was Sitte ist, noch gegen das, was Gesetz ist. Auflehnung gegen die guten Ord­nungen des Lebens macht so unfrei wie Kadavergehorsam. Ich, der allmächtige Gott, will dein Vater im Himmel sein. Du kannst es dir leisten, dich in Liebe einzuordnen und so deine Freiheit zu gewinnen.

6. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst nicht töten!

Du brauchst die anderen nicht als Kon­kurrenten zu behandeln! Denen man »zuvorkommen« muss, die man von sich abhängig machen muss, die man beruflich und politisch oder persönlich »fertigmachen« muss. So ein Verhalten ist kein Zeichen von Kraft und Tüchtig­keit, sondern von Schwäche und Angst. Ich, der allmächtige Gott, will dein Beschützer sein. Du kannst es dir leisten, deinem Nächsten leben zu helfen.

7. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst nicht ehebrechen!

Du brauchst dich nicht »auszutoben«! Weder durch unsauberes Geschwätz noch durch schwüle Tagträume, weder indem du dich selbst befriedigst, noch indem du andere zu deiner Befriedigung missbrauchst. Bring’ dich nicht durch die Karikaturen der Liebe um die Freude der Liebe! Ich, der allmächtige Gott, will der Stifter deines Glücks sein. Du kannst es dir leisten, auf den Menschen zu warten, den ich dir sende.

8. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst nicht stehlen!

Du brauchst dich nicht unehrlich zu bereichern! Weder durch Diebstahl noch durch Geschäftsbetrug, weder indem du den Nächsten noch indem du den Staat übers Ohr haust. Was du dadurch an Besitz gewinnst, verlierst du an Frieden und Selbstach­tung. Ich, der allmächtige Gott, will dein Versorger sein. Du kannst es dir leisten, zu geben, statt zu nehmen.

9. Ich bin der Herr, dein Gott: Du wirst nicht lügen!

Du brauchst nicht von der Wahrheit abzuweichen! Weder, um den Näch­sten schlecht zu machen noch, um dein Versagen zu vertuschen, weder zu deiner eigenen Bequemlichkeit, noch weil andere es von dir verlangen. Die Lüge macht das Zusammenleben der Menschen auf die Dauer zur Hölle. Ich, der allmächtige Gott, habe Ver­trauen zu dir. Du kannst es dir leisten, Vertrauen zu schenken und zu schaf­fen.

10. Ich bin der Herr, dein Gott: du wirst nicht neidisch sein!

Du brauchst nicht neidisch zu sein! Weder auf den Besitz der anderen noch auf das Können der anderen, weder auf die Güte der anderen noch auf den Erfolg der anderen. Der Neid auf die anderen nimmt dir die Freude am Eigenen. Ich, der allmächtige Gott, bin der Geber guter Gaben für dich. Du kannst es dir leisten, den anderen ihr Gutes zu gönnen.

Quelle: Ernst-Lange-Lesebuch. Von der Utopie einer verbesserlichen Welt. Texte, hrsg. v. Georg Friedrich Pfäfflin und Helmut Ruppel, Berlin: Wichern, 1999.