Jede Gesellschaft braucht Gesetze, die ihre Gemeinschaft definieren. Es ist eine großartige Idee, der Besinnung auf die zehn Gebote einen öffentlichen Raum zu geben und so daran zu erinnern, was für das Zusammenleben in der Gesellschaft auch heute wesentlich ist. Natürlich leben wir im 21.Jahrhundert nicht mehr in einer patriarchalischen Gesellschaft und die Gebote gelten in gleicher Weise für Frau und Mann. Auch sind die Zehn Gebote heute kein Aufruf zu blindem Gehorsam. Sie setzen nicht einmal notwendig den Glauben an Gott voraus und bleiben dabei dennoch das, was sie seit Jahrtausenden sind: widerstandsfähige Leitplanken eines guten und gelingenden Lebens.
Als Präsident des Familienbundes hat es mir in besonderer Weise das Vierte Gebot angetan: Ehre deinen Vater und deine Mutter, wie es dir der Herr, dein Gott, zur Pflicht gemacht hat, damit du lange lebst und es dir gut geht in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir gibt (Dtn 5,16).
Das Gebot richtet sich ja nicht – wie manchmal unterstellt – an minderjährige Kinder, die sich dem Willen autoritärer Eltern brav unterwerfen sollen. Die Adressaten sind erwachsene Frauen und Männer, die ermahnt werden, den Eltern und darüber hinaus ihren Herkunftsfamilien, ihren Wurzeln mit Respekt zu begegnen.
Eltern galten in der Bibel und sind bis heute „Überlieferer“ und „Bewahrer“ der Tradition, sind gleichsam die Brücke zu den eigenen Ahnen. Sie garantieren damit auch die Beziehung zu Gott über die Generationen hinweg. Wer seine Eltern würdigt und respektvoll mit ihnen umgeht, würdigt Gott selbst und erweist ihm Achtung und Ehre.
Die Begründung des Gebots im Buch Deuteronomium macht deutlich, dass letztlich noch mehr als die Eltern die Kinder davon profitieren, wenn sie ihre Eltern „ehren“. Denn für das Wohlergehen der Kinder ist es wesentlich, ausgesöhnt und respektvoll verbunden mit den „Altvorderen“ zu sein und um die eigene Herkunft zu wissen. Der Segen der Alten läßt die Jungen in eine gute Zukunft gehen. Wer mit seinen Wurzeln unversöhnt ist, hat seine Zukunft schon hinter sich, weil er verhaftet bleibt in den „alten Geschichten“ – „Zukunft braucht eine respektvolle Aussöhnung mit der Herkunft,“ könnte man in Umwandlung eines bekannten Zitats des Philosophen Hans-Georg Gadamer sagen.
Und dann ist das Vierte Gebot auch so etwas wie ein „Generationenvertrag“, der die Gegenseitigkeit der Eltern-Kind-Beziehung betont. So wie Eltern für ihre heranwachsenden Kinder zu sorgen haben, so haben auch die Kinder später einmal die Pflicht, ihre Eltern im Alter materiell abzusichern und sie nicht einfach ihrem Schicksal zu überlassen. Das Gebot betont so die Bedeutung des familiären Zusammenhalts, der heute oft so schwer zu realisieren ist. Die Gesellschaft tut gut daran, Familien durch eine neue Zeitpolitik Räume für das familiäre Leben über die Generationen zu eröffnen, zu bewahren und diese Räume für Familie nicht immer mehr einzuengen.
Die zehn Gebote zeigen die richtige Priorisierung: als erstes der Gebote, die das Miteinander in der Gesellschaft regeln, kommt dieses Vierte Gebot: Familie geht der Gesellschaft voraus und bildet deren Grundlage. Wohl einer Gesellschaft, die diese Grundlage zu pflegen weiß.