In der Friedensdiskussion unserer Tage werden neue Antworten gesucht auf alte Fragen, die uns lange und immer wieder bewegen. Doch es gibt auch alte Antworten auf heute neugestellte Fragen. Die zehn Gebote sind eine solche alte Antwort, in deren Licht wir vieles von dem, was uns heute in der Friedensdiskussion bewegt, klarer und deutlicher beurteilen können.
Heute wird in der Kirche der Ruf laut: Redet eindeutig! Der Ruf nach Eindeutigkeit schafft jedoch die Widersprüche nicht aus der Welt, die im Streit um den Frieden auftreten. Eindeutig reden um des Friedens willen heißt darum, mit diesen Widersprüchen auf eine wahrhaftige Weise umzugehen. Das fängt damit an, die Mahnung Jesu aus der Bergpredigt ernst zu nehmen: „Was siehst du den Splitter In deines Bruders Auge, aber den Balken in deinem eigenen Auge wirst du nicht gewahr?“ (Matth. 7,3). Der Streit um den Frieden ist bereits der Ernstfall des Friedens und darf darum nicht im Geiste gegenseitiger Verurteilung oder Verdammung ausgetragen werden.
Die hier unternommene Neuformulierung und Auslegung der zehn Gebote für den Frieden beansprucht nicht, die notwendige differenzierte Diskussion der Friedensfrage weiterzuführen, wie sie z. B. In der Denkschrift der EKD „Frieden wahren, fördern und erneuern“ von 1981 ihren Niederschlag gefunden hat. Sie formuliert elementare Grundhaltungen in der Friedensfrage im Licht der zehn Gebote.
Das erste Gebot für den Frieden, an das wir uns in jedem Falle halten sollen, lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann trage bei zum Vertrauen auf Gott.
Das erste Gebot ist ein Ruf zu dem Vertrauen darauf, daß Gott im Regimente sitzt und die Entscheidung über das Gelingen des Lebens letztlich allein von ihm abhängt. Das ist der Glaube, an den wir in jedem Falle gewiesen sind, das Vertrauen auf Gott als dasjenige wie Martin Luther gesagt hat, woran wir unser Herz hängen. Dieses Vertrauen ist das tragende Fundament für einen friedensfähigen Umgang mit dem Frieden, ein Fundament, von dem wir über unser eigenes Vermögen hinaus reden können und sollen. Darum werden wir auch erst dann politikfähig, wenn wir darauf verzichten, in einem letzten Sinne selber Herr der Geschichte sein zu wollen. Dieses Vertrauen kann eine befreiende Rolle spielen gerade angesichts der Widersprüche, in denen wir in bestimmten Fragen gegeneinander stehen. In dieser Angewiesenheit auf das Vertrauen zu Gott gibt es einen Weg für die Verständigung unter Menschen, die sonst vielleicht nicht mehr miteinander reden können. „Euer Vertrauen soll Gott sein, sonst werdet ihr umkommen“ (Martin Luther).
Das zweite Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann mißbrauche nicht Deine eigene Überzeugung zur Verurteilung anderer.
Das zweite Gebot spricht davon, daß wir den Namen Gottes nicht fälschlich anrufen sollen. Von Gustav Heinemann stammt der Ausruf: „Christus ist nicht gegen jemanden gestorben, sondern für uns Menschen“. Darum will das zweite Gebot für den Frieden dem Mißbrauch von Überzeugungen wehren, mit dem andere in ihrem Gewissen bedrängt werden. Die Kirche muß, wo sie sich an der politischen Diskussion beteiligt, aus Gründen ihres eigenen Bekenntnisses solchem Mißbrauch der Anrufung des Namens Gottes entgegentreten. Im Lichte dieses zweiten Gebotes für den Frieden ist die Friedensdiskussion deshalb auch ein Testfall für die Achtung der Demokratie. Dazu gehört es, den politischen Kompromiß nicht zu verachten, sondern als eine Konsequenz aus der richtigen Unterscheidung zwischen Gottes Regiment und dem Regieren der Menschen anzuerkennen, die Bergpredigt nicht gegen andere ins Feld zu führen, sondern auf sich selbst anzuwenden, und vor allem Gott die Ehre zu geben, damit wir uns untereinander noch respektieren und achten können.
Das dritte Gebot für den Frieden lautet;
Wenn Du Frieden willst, dann stärke die Gemeinschaft.
Die Heiligung des Feiertages, von der das dritte Gebot spricht, verweist auf den Gottesdienst und damit auf die symbolische Darstellung dessen, was wir als Christen gemeinsam empfangen und woraus die Gemeinschaft der Kirche lebt. Darum ist dieses Gebot ein Gebot des Friedens angesichts vieler Aktivitäten, die uns trennen. Je aktiver wir sind, als Gruppen, als einzelne, als Bewegung, um so mehr tritt hervor, was uns trennt. Auch aktive Diskussionen um den Frieden können diese trennende Wirkung haben. Um so wichtiger wird dann das Wissen um dasjenige, worin wir uns zusammenfinden können. Darum ist die gemeinsame Feier des Gottesdienstes ein Testfall für den Geist des Friedens unter uns, wenn z. B. Angehörige der Bundeswehr und Wehrdienstverweigerer zusammen das Abendmahl feiern. Den Feiertag zu heiligen, das heißt darum nicht, den Gottesdienst zum Instrument politischer Friedensaktivitäten zu machen, sondern das Gemeinsame aufzusuchen und zu fördern, das Angebot von Wort und Sakrament als Gebot des Friedens zu empfangen.
Das vierte Gebot des Friedens lautet:
Wenn Du Frieden in der Welt willst, dann suche ihn auf politische Weise.
Das vierte Gebot handelt vom Verhältnis der Generationen zueinander, von der Beziehung von Eltern und Kindern. Es gilt dem Verhältnis von Autorität und Mündigkeit. Die emotionale Dramatik, die wir heute in diesem Verhältnis der Generationen erleben, ist exemplarisch für die Leidenschaften, mit denen die Suche nach Selbstverwirklichung, Befreiung und neuem Leben in unserer Gesellschaft aufbricht. Wir können uns auch an der Friedensfrage nicht engagieren, ohne das mit Leidenschaft zu tun. Aber es ist keineswegs so, daß nur diejenigen wirklich, daß heißt mit Leidenschaft engagiert sind, die ihre persönliche Betroffenheit unmittelbar zeigen und darstellen. Es gibt auch eine Leidenschaft der Vernunft, die in rationale politische Argumentation eingeht, und emotionale Betroffenheit, die sich in mündige Mitverantwortung umsetzt. Die Friedensfrage ruft auf zu politischer Mündigkeit. Dazu gehört, daß die Leidenschaften, die Gefühle, die Ängste, Sorgen und Hoffnungen, die wir haben, politikfähig werden, denn nur so können sie eine konstruktive Rolle spielen und gehen nicht in der Wirrnis und Undeutlichkeit unserer Emotionen unter.
So ist Pazifismus mit Recht als eine Grundausstattung der Demokratie bezeichnet worden, Frieden als die große Leidenschaft, oder, wie jemand gesagt hat, im Grunde sind 99 Prozent der Menschen Pazifisten. Dann aber gilt: Wenn Du den Frieden willst, werde politikfähig. Denn nur dasjenige, worüber unter den Menschen gegenwärtig auf politische Weise Übereinstimmung erzielt werden kann, hat auch eine Zukunft. Und darum entscheidet sich die Zukunft des Friedens in der Gegenwart eines politisch bejahten Gemeinwesens.
Das fünfte Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann achte das Leben über alles.
Das fünfte Gebot gilt dem Schutz des Lebens. Es ist das Gebot, das einen Grundpfeiler in der Ordnung menschlichen Zusammenlebens markiert und dessen Verletzung uns immer wieder zutiefst trifft, beunruhigt und herausfordert. Das fundamentale Tötungsverbot ist eine Grundregel des Rechts und fordert, daß Konflikte unter Menschen nicht mit letzter Konsequenz ausgetragen werden, sondern eine unbedingte Grenze am Lebensrecht des Menschen haben. Rechtsfrieden, Sicherung des Friedens durch strikte Bindung an Recht und Gesetz gegen jede Versuchung, den eigenen Willen mit Gewalt durchzusetzen, das ist ein universales Gebot. Daß dieses Gebot auch im Streit unter Völkern und Staaten unbedingte Achtung finde, daß Krieg als Mittel zum Austrag von Konflikten überwunden werde, muß als das unabdingbare Ziel aller Friedensbemühungen gelten. Wie können wir dem Widerspruch entgehen, daß auch der Schutz und die Verteidigung des Lebens vor dem Angreifer noch die Bereitschaft einschließen, notfalls zur Waffe zu greifen? Auf welchem Wege kann das Völkerrecht zu einer wirksamen Ordnung des Friedens unter den Völkern werden? Das sind die Fragen, die uns heute unabweisbar gestellt sind. Niemand kann diesen Widerspruch heute schon schlüssig auflösen. Aber es ist ein wichtiger Schritt, wenn dieses Gebot positiv formuliert wird auf die Förderung von Lebensrecht und Lebensmöglichkeiten hin. Darum ist einer der Wege zu seiner Achtung die Anerkennung und Verwirklichung von Menschenrechten und Freiheitsrechten. Das Nein zum Krieg gründet im Ja zum Leben.
Das sechste Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann halte auch den Verpflichtungen und Verbindungen die Treue, in denen Du stehst.
Das sechste Gebot ist das Gebot der Treue. Wenn wir es hier von der Ehe hinübernehmen in die Friedensthematik, dann deswegen, weil konkrete verbindliche Friedensarbeit es immer auch mit der Treue zu eingegangenen und anerkannten Verpflichtungen und Bündnissen zu tun hat. Man spricht heute oft von Nächstenliebe und von Fernstenliebe. Vom Sinn des Liebesgebotes gilt, daß wir nur „alle“ Menschen lieben können, wenn wir zuerst diejenigen lieben, die uns unmittelbar anvertraut sind und mit denen wir konkret verbunden sind. Jedenfalls können wir nicht „alle“ Menschen lieben auf Kosten derjenigen, die wir konkret lieben sollen. Auf die politische Friedensaufgabe übertragen, heißt das: Wir dienen dem Frieden konkret, wenn wir schon gelungene Formen und Strukturen des Friedens wahren und aufrechterhalten und nicht um eines globalen Friedens willen konkrete Ordnungen des Friedens verraten und verlassen. Das ist heute ein sehr reales Problem in der Friedensbewegung unserer Tage. Wir stehen in ganz bestimmten Verpflichtungen des politischen Friedens, in der Gestalt politischer Bündnisverpflichtungen, deren Auflösung und Zerstörung nach allem, was wir wissen können, jedenfalls nicht dem Frieden dienen, sondern ihn gefährden. Das Gebot der Treue widerspricht darum der Auffassung, neue Wege des Friedens könnten über Scheidung und Trennung von eingegangenen Verpflichtungen des Friedens eröffnet werden. Im Sinne des sechsten Gebotes für den Frieden ist auch politische Treue ein Element der Entwicklung und Förderung des Friedens.
Das siebente Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann frage Dich selbstkritisch, wem Du Frieden genommen hast.
Das siebente Gebot „Du sollst nicht stehlen“, weist uns an den Zusammenhang von Politik und Wirtschaft, Rüstungsausgaben und wirtschaftlicher Entwicklung, Frieden und Gerechtigkeit. Hinter der meist im Vordergrund stehenden Diskussion um die modernen Massenvernichtungswaffen steht die dringende Frage auf, wieweit der gerüstete Friede im Ost-West-Verhältnis ökonomisch darauf beruht, daß wir anderen Menschen und Völkern Lebensmöglichkeiten vorenthalten oder wegnehmen, ob unsere Sicherheit also so etwas wie ein „gestohlener“ Friede sei. Das ist eine sehr ernste Frage von ökumenischer, weltweiter Bedeutung, die auch durch näherliegende Argumente für die Notwendigkeiten der Sicherheitspolitik nicht beiseitegeschoben werden kann. Sie verschärft sich noch dadurch, daß die Rüstungsausgaben weltweit gerade in sogenannten Entwicklungsländern rapide ansteigen. Das Mißverhältnis von Friede und sozialer Gerechtigkeit ist darum der schmerzende Stachel in allem Sicherheitsdenken, gegen den wir uns nicht immunisieren dürfen.
Das achte Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann habe acht darauf, wie Du über andere redest, ob Du das auf wahrhaftige und friedfertige Welse tust.
Das achte Gebot richtet sich gegen das falsche und verleumderische Reden über andere. Im Zusammenhang mit dem Frieden werden wir hier nach den Feindbildern gefragt, nach der wahrheitsgemäßen Realität in den Vorstellungen, die Menschen und Völker in gegnerischen Lagern voneinander haben und aufrechterhalten. Der Abbau von Feindbildern ist ein wichtiger Baustein zum Frieden. Zwischen real existierenden politischen Konflikten und falschen Feindbildern zu unterscheiden, das ist darum ein Aufklärungsgebot, zu dem das Ziel des Friedens auffordert. Es gibt solche Feindbilder aber auch im Streit um den Frieden in unserem eigenen Land, zumal in der Kirche bis dahin, daß die einen den anderen das Christsein absprechen und statt dessen in christlichen Worten Übles von ihnen reden. Solche Verunglimpfung, auch und gerade wenn sie mit theologischen Urteilen ausgestattet wird, verstößt gegen dieses Gebot des Friedens. Üble Nachrede richtet sich häufig auch auf verantwortliche Politiker, weil sie die Probleme nicht so lösen können, wie wir das gerne wünschen und erwarten. Wenn Friede die wichtigste öffentliche Angelegenheit ist, dann sind wir im Sinne des achten Gebotes auch verpflichtet, solcher falschen Rede und Beschuldigung in der Öffentlichkeit zu wehren.
Das neunte Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann bescheide Dich mit dem, was Du hast, und begehre nicht, immer mehr haben zu wollen.
Das neunte Gebot richtet sich, wenn es auf die Bewahrung des Friedens hin ausgelegt wird, gegen das Expansionsstreben, gegen die Absicht, andere zu beherrschen und zu unterwerfen, die Einmischung in die Selbständigkeit anderer bis hin zur Besetzung fremder Territorien. Wir in Deutschland wissen, wie solches Expansionsstreben zur Ursache eines großen Krieges geworden ist. Es ist das schlichte und deutliche Gebot, Grenzen der Macht und des Einflusses gegenüber dem Gut und der Selbständigkeit anderer zu achten. Bedrohung des Friedens durch den Willen zur Expansion findet auch in den Beziehungen der Menschen untereinander statt. So kann Selbstverwirklichung zu einer Art Selbstexpansion werden, als eine Ausweitung und Vermehrung der eigenen Lebensmöglichkelten und des eigenen Lebenswillens auf Kosten anderer. Das neunte Gebot für den Frieden appelliert auf seine Weise an unsere Gemeinschaftsfähigkeit, die von jedem verlangt, Grenzen zu respektieren und Unterschiede zu akzeptieren, auch und gerade in der Friedenshoffnung und der Friedenssehnsucht unserer Tage.
Das zehnte Gebot für den Frieden lautet:
Wenn Du Frieden willst, dann sei tief beunruhigt über die Friedlosigkeit der Welt, vor allem aber über Dich selbst, und halte Dich an die Vergebung als den evangelischen Sinn des Friedens.
Als zehntes Gebot wird hier, in Abweichung von den zehn Geboten des Alten Testaments, auf den inneren Richtungssinn evangelischer Ethik hingewiesen. Wenn das Christentum zu Frieden und Gerechtigkeit, zu Politik und Verantwortung in der Welt etwas Wesentliches beigetragen hat in der Vergangenheit und in der Zukunft wird beitragen können, dann vor allem, weil im christlichen Glauben alle Konflikte in der Welt und alle Kritik an der Welt zuvor und zuerst von den Christen selbst übernommen werden im Bekenntnis der eigenen Unfähigkeit, Schwachheit und Sünde. Dieses Bekenntnis, zu dem uns Christus befreit, ist die tiefste Solidarität, in der wir uns vereint wissen können. Es ist die Stärke des Christentums, gegenüber allen Behauptungen menschlicher Stärke und Überlegenheit zuerst die große Solidarität des Bekenntnisses zu unserer faktischen Schwäche und Sündhaftigkeit aufzubauen. Die Kraft des Glaubens, der in der Vergebung durch Jesus Christus gründet, ist darum nicht eine Position der Überlegenheit über andere. Darum ist gerade in der Friedensfrage diese Solidarität wichtig und nicht eine Haltung in dem Sinne: Wir haben die richtige Moral und die anderen die Probleme. Der evangelische Sinn des Friedens heißt Vergebung, vor allem Nein steht das große Ja Gottes. Wahrhaftige Friedensgesinnung ruft nach wahrhaftiger Selbsterkenntnis. Die Antwort auf das Ja Gottes ist dann die Bejahung der Verantwortung, die uns für die Erhaltung und Erneuerung der guten Kräfte des Lebens übertragen Ist.
So lassen sich die zehn Gebote für den Frieden heute lesen und umsetzen. Martin Luther hat gelehrt, daß die zehn Gebote und der Glaube vom ersten Gebot her zusammengehalten sind. Von Gottes Regiment, zu dessen vertrauensvoller Anerkennung das erste Gebot aufruft, hat Dietrich Bonhoeffer Folgendes gesagt: „Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen. Ich glaube, daß Gott in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Ich glaube, daß auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden als mit unseren vermeintlichen Guttaten. Ich glaube, daß Gott auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.“