Über die Zehn Gebote und die Geltung der Bergpredigt Jesu (Ethik)
Von Dietrich Bonhoeffer
Das ganze Gesetz und das ganze Evangelium Gottes gehört in gleicher Weise allen Menschen. Der Einwand: die Kirche fordere in der Welt die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung, des Eigentums, der Ehre, vom Christen aber den Verzicht auf dies alles, in der Welt müsse Vergeltung und Gewalt, bei den Christen aber Vergebung und Unrechtleiden geübt werden, – dieser Einwand, der auf eine doppelte christliche Moral hinauswill und weit verbreitet ist, geht von einem falschen Verständnis des Wortes Gottes aus. Wenn der Dekalog das Recht auf Leben, Ehe, Eigentum, Ehre des Menschen im Namen Gottes gewahrt wissen will, so bedeutet das nicht, daß diese Rechtsordnungen an und für sich einen absoluten göttlichen Wert hätten, sondern nur daß in und über ihnen Gott allein geehrt und angebetet sein will. Darum ist die 2. Tafel von der ersten niemals zu trennen. Die Ordnungen sind also nicht eine zweite göttliche Instanz neben dem Gott Jesu Christi, sondern sie sind der Ort, an dem der Gott Jesu Christi sich Gehorsam schafft; nicht um die Ordnungen an sich, sondern um den Glaubensgehorsam in ihnen geht es in Gottes Wort. Wiederum ist der Ruf Jesu, in seiner Nachfolge auf das eigene Recht zu verzichten, Leben, Ehe, Ehre, Eigentum hinzugeben um der Gemeinschaft mit Jesus willen nicht eine Aufstellung einer neuen absoluten Wertetafel – also etwa Selbstverleugnung gegenüber Selbstbehauptung; denn auch im Dekalog geht es nirgends um Selbstbehauptung, sondern allein um Gottes Recht und Ehre; sondern es geht Jesus wie dem Dekalog um den konkreten Gehorsam gegen Gott; dabei kann gerade im Verzicht auf das eigene Recht, Eigentum, Ehre um Gottes willen der wahre Ursprung dieser Gaben, also Gott selbst, höher geehrt werden als im Bestehen auf dem eigenen Recht, das das Recht Gottes dann leicht verdunkeln könnte. Die Forderung Jesu an den reichen Jüngling, von einem seiner Rechte zu lassen, macht es gerade deutlich, daß sein „Halten der zehn Gebote von Jugend auf“ kein Gehorsam gegen Gott gewesen war, sondern ein Absehen von dem Lebendigen Gott mitten in der Wahrung der sogenannten göttlichen Ordnungen. Dekalog und Bergpredigt sind also nicht zwei verschiedene ethische Ideale, sondern der eine Ruf zum konkreten Gehorsam gegen den Gott und Vater Jesu Christi. Wo im Glauben an Gott die Ordnung des Eigentums bejaht und verantwortet wird, dort geschieht nichts anderes als wo im Glauben an Gott auf das Eigentum Verzicht geleistet wird. Weder der „Kampf ums Recht“ noch der „Verzicht auf Recht“ sind an sich etwas, also etwa eigener Gegenstand der kirchlichen Verkündigung, aber im Glauben ist das eine wie das andere Unterwerfung unter Gottes alleiniges Recht.
Es gibt also nicht eine doppelte Wertetafel, für die Welt und für die Christen, sondern es ist das eine Glauben und Gehorsam fordernde Wort Gottes, das allen Menschen gilt. Dabei wäre es auch verfehlt, in der Verkündigung an die Welt stärker den Kampf um das Recht, in der Verkündigung an die Gemeinde stärker den Verzicht auf das Recht zu betonen. Beides gilt Welt und Gemeinde. Die Behauptung, mit der Bergpredigt lasse sich nicht regieren, kommt aus einem Mißverständnis der Bergpredigt. Auch eine Staatsführung kann kämpfend und verzichtend Gott ehren und nur darum geht es der Verkündigung der Kirche. Es ist niemals die Aufgabe der Kirche dem Staat den natürlichen Selbsterhaltungstrieb zu predigen, sondern allein den Gehorsam gegen das Recht Gottes. Das ist zweierlei. Die Verkündigung der Kirche an die Welt kann immer nur Jesus Christus in Gesetz und Evangelium sein. Die zweite Tafel ist von der ersten nicht zu trennen.
Indem die Kirche Einzelne und Völker zum Glauben und Gehorsam gegen die Offenbarung Gottes in Jesus Christus ruft, bezeichnet sie zugleich einen Raum, in dem dieser Glaube und dieser Gehorsam zum mindesten nicht unmöglich gemacht wird, dieser Raum ist durch die zehn Gebote abgesteckt. Wo keine sichtbare Übertretung der 10 Gebote ist, dort ist zum mindesten kein Ärgernis gegeben, das am Glauben hindert. Die Kirche kann zwar nicht eine konkrete irdische Ordnung, die aus dem Glauben an Jesus Christus notwendig folgt, verkündigen, aber sie kann und muß jeder konkreten Ordnung, die ein Ärgernis für den Glauben an Jesus Christus bedeutet, entgegentreten und dadurch mindestens negativ die Grenzen abstecken für eine Ordnung, innerhalb deren Jesus Christus geglaubt und Gehorsam geleistet werden kann. Diese Grenzen sind in allgemeinster Form im Dekalog gezogen, in concreto werden sie immer neu bezeichnet werden müssen. In allem, was die Kirche zu den Ordnungen der Welt zu sagen hat, kann sie nur Weg-bereitend für das Kommen Jesu Christi wirken, wobei das wirkliche Kommen Jesu Christi selbst in dessen eigenster Freiheit und Gnade liegt. Weil Jesus Christus gekommen ist und wieder kommt, darum muß ihm überall in der Welt der Weg bereitet werden, darum allein also hat es die Kirche auch mit den weltlichen Ordnungen zu tun. Also: allein aus der Christuspredigt folgt das Wort der Kirche über die irdischen Ordnungen, nicht aber gibt es eine eigene, an und für sich gültige Lehre der Kirche über ewige Ordnungen und Rechte der Natur und der Menschen, die auch unabhängig vom Glauben an Christus Anerkennung fordern könnte. Menschen- und Naturrechte gibt es nur von Christus her, das heißt aus Glauben.
Quelle: Dietrich Bonhoeffer, Ethik, hrsg. v. Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil und Clifford Green, DBW 6, München: Chr. Kaiser, 1992, S. 359-363.