Martin Honecker, Die Zehn Gebote als Maßstäbe eines gemeinsamen Lebens

Wenn nach dem Beitrag der Christen zur Grundwertediskussion gefragt wird, so wäre zunächst ein­mal zu prüfen, ob dieser nur in der Einübung in den rechten Umgang mit Grundwerten erfolgen kann, oder nicht auch auf ganz andere Weise geschehen könnte, nämlich in Erinnerung an die zweite Tafel des Dekalogs als gemeinschaft­licher Lebensordnung. Der Dekalog, die Zehn Gebote bilden in der Bibel eine Einheit. Die Verheißungs­zusage des 1. Gebotes „Ich bin der Herr dein Gott“ trägt die einzelnen Forderungen: „Du sollst“. Den ethischen Forderungen voraus geht das Angebot des Glaubens. Dieses Angebot eröffnet dem Menschen einen Sinnhorizont, verweist ihn auf einen Vertrauensgrund und gibt seinem Leben Orientierung und Halt. In der heutigen Sinnkrise könnte dieses Angebot angesichts des allgemeinen Vertrauens­schwundes, der Angst vor der Zu­kunft, der Orientierungslosigkeit in der Gegenwart neues Vertrauen und Lebenszuversicht vermitteln. Aufgabe des christlichen Zeugnis­ses ist es, auf dieses Angebot hin­zuweisen. Dieses Zeugnis kann nur ein Glaubenszeugnis sein und steht deshalb nicht im Aufgabenbereich politischen Handelns. Die soge­nannte Grundwertekrise entzieht sich, soweit sie Sinnkrise und fundamentale Erschütterung der Lebenszuversicht ist, der politi­schen Zuständigkeit und politischen Antworten. Denn Glauben zu schaf­fen vermag allein das Evangelium. Darum gehört die Erinnerung an die erste Tafel des Dekalogs allein zum kirchlichen Auftrag.

Die zweite Tafel des Dekalogs, die mit dem 4. Gebot lutherischer Zäh­lung beginnt, enthält hingegen all­gemeinmenschliche Grundregeln und Grundforderungen. Der Ver­haltensforscher Wolfgang Wickler hat eine „Biologie der Zehn Ge­bote“, 1971 verfasst. Die für sich be­trachtete zweite Tafel des Dekalogs — eine Deutung die nach theologi­schem Verständnis freilich nur einen Teilaspekt des Dekalogs erfasst — enthält eine Summe allge­meinmenschli­cher Einsichten und Verhaltenshilfen. Dabei zeigt es sich, dass der Dekalog eben in unseren Kirchen teilweise deshalb in Vergessenheit geraten ist, weil er lediglich im Katechismusunter­richt zur Unterweisung der Kinder verwendet wird. Der Dekalog rich­tet sich hingegen seinem ursprüng­lichen Verständnis nach gerade an den freien, verantwortlichen Mann und verpflichtet ihn auf die Wah­rung elementarer Grundsätze menschlichen Zusammenlebens (neben der Einschärfung religiöser und kultischer Vorschriften). Das sei nunmehr beispielhaft verdeut­licht, unter Zuhilfenahme sowohl exegetischer Erkenntnisse wie der Auslegungstradition der kirchlichen Überlieferung und in Beschränkung auf aktuelle Bezüge.

Das 4. Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ ist in der lutherischen Auslegung ver­standen worden als Anleitung zum Untertanengehorsam und als Be­gründung einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung. Es gilt des­halb heute vielfach als antiquiert, da in der Neuzeit zwischen Eltern und Kindern ein partnerschaftliches Verhältnis getreten sei. In der Tat wird man diesen Einwand ernst zu nehmen haben. Aber er trifft eben nicht den Ursinn des Gebotes. Das Gebot verbietet im Alten Testament den „Elternfluch“, die Ausstoßung der alten Eltern aus dem Familien­verband und damit ihre Verurtei­lung zum physischen und sozialen Tod. Nicht ohne Grund hat dieses Gebot als einziges eine Verhei­ßung: „auf dass dir’s wohlergehe und du lange lebest auf Erden“. Diese Verheißung gilt nicht dem einzelnen Israeliten, sondern dem Volk Israel und seinem Bestand. Aktuell ist heute das 4. Gebot für uns unter den Stichworten „Gene­rationenvertrag“ oder „Achtung und Schutz der Familie“, „Familienzusammenhalt“, die auf Wertvor­stellungen aufmerksam machen, die auch politisches Handeln bin­den.

Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ ist durch die Bergpredigt und Luther dahingehend verschärft worden, dass es nicht nur physische Tötung verbietet, sondern auch Hass und Neid untersagt und stattdessen Nächstenliebe gebietet. Sei­nem Ursinn nach richtet es sich gegen gemeinschaftswidriges Tö­ten. Aktuell ist heute angesichts des Zerstörungspotentials, der Ver­nichtung von Lebensgrundlagen und Ressourcen eben nicht nur im Blick auf direktes Töten, sondern auch im Blick auf indirekte Lebens­vernichtung und Lebensbeschädi­gung durch Entziehen, Zerstören und Vorenthalten von Lebenschan­cen und Lebensmöglichkeiten. Christen sollen dem wehren, was menschliches Leben zerstört und beeinträchtigt.

Das 6. Gebot „Du sollt nicht ehe­brechen“ hat ursprünglich den Schutz der Institution der Ehe vor Augen. Angesichts vielerlei Infrage­stellung der Ehe heute ist dieses Gebot von besonderer Aktualität. Christen sollten beispielsweise da­zu beitragen, dass Sexualerziehung mehr ist als bloße Information über biologische Fakten und dass sie zur Erziehung zur Ehe wird, zur Ehe­fähigkeit und zur Achtung der Insti­tution der Ehe anleitet.

Das 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ kann heute nicht nur auf den Schutz materieller Güter be­schränkt werden, sondern bezieht sich auch auf immaterielle Güter: Versorgungsansprüche oder auch geistiges Gut fallen darunter. Es geht hier um die Ermöglichung der Lebenschancen des Mitmenschen, um die Wahrung der Entfaltungs­möglichkeiten des Anderen. So kann man dieses Gebot wiederge­ben mit der Forderung: „Du sollst nicht zu deinem Vorteil auf Kosten deiner Mitmenschen leben“.

Das 8. Gebot „Du sollst nicht fal­sches Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ bezieht sich zunächst auf die Rechtspflege. Es verpflich­tet den Israeliten zu unparteilicher und objektiver Rechtswahrung als Zeuge. Es erlegt uns Heutigen die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und eine objektive, allein Recht und Ge­rechtigkeit verpflichtete Rechts­pflege auf. Luther hat dieses Gebot sodann in seiner Auslegung erwei­tert auf den Schutz des guten Rufes, der Ehre des Mitmenschen. Der gute Ruf, die Ehre sind soziale Güter. Wer sie verliert, wem sie ge­nommen werden, ist gesellschaftlich geächtet. Die modernen Massen­kommunikationsmittel haben bisher nicht gekannte Mittel der direkten Diffamierung und Diskriminierung Andersdenkender und Anders­lebender wie indirekter Zerstörung von Ansehen und Anerkennung durch Veröffentlichungen aus dem persönlichen Bereich bereitgesteilt und nutzen sie auch oftmals. Luther hat zwischen dem „Wissen einer Sünde“ und dem „Richten der Sünde“ nicht ohne Grund unter­schieden und gemeint, nicht jeder, der von der Sünde eines Anderen wisse habe auch das Recht, über sie öffentlich zu richten. Denn nur was öffentlich ist, dürfe man auch öffentlich richten. Das 8. Gebot ist gegenwärtig wohl eines der am wenigsten beachteten und bedach­ten Gebote, obwohl es dazu dienen will, die Gemeinschaft und die Inte­grität des Lebens zu schützen, in­dem es Lüge und Diffamierung als Gemeinschaft und Vertrauen zer­störende Verhaltensweisen kenn­zeichnet. Das Thema Politik und 8. Gebot wäre jedenfalls neue Auf­merksamkeit wert.

Im 9. und 10. Gebot „Du sollst nicht begehren“ wird zwar nach der Katechismustradition nicht ein Verhalten, sondern eine Gesinnung an­gesprochen. Ursprünglich wendet sich dieses Gebot aber freilich auch gegen unrechtmäßige Machen­schaften und Manipulationen; es verbietet, wie Luther im Großen Katechismus ausdrückte, das „im Trüben Fischen“. Eine Gesellschaft des Anspruchsdenkens, der Interes­senverfolgung auch auf Kosten der Allgemeinheit und zum Schaden anderer, ist auch diesem Gebot zu konfrontieren.

Diese wenigen Bemerkungen zur zweiten Tafel des Dekalogs zeigen wohl schon zur Genüge, wie diese uralten Gebote nach wie vor sinn­volle Regeln für das Zusammen­leben des Menschen enthalten und nicht überholt sind. Sie setzen Maß­stäbe eines menschlichen gemein­samen Lebens in Frieden und Ver­antwortung.

Quelle: Evangelische Verantwortung, Heft 10 (Oktober), 1978, S. 6f.