Wenn nach dem Beitrag der Christen zur Grundwertediskussion gefragt wird, so wäre zunächst einmal zu prüfen, ob dieser nur in der Einübung in den rechten Umgang mit Grundwerten erfolgen kann, oder nicht auch auf ganz andere Weise geschehen könnte, nämlich in Erinnerung an die zweite Tafel des Dekalogs als gemeinschaftlicher Lebensordnung. Der Dekalog, die Zehn Gebote bilden in der Bibel eine Einheit. Die Verheißungszusage des 1. Gebotes „Ich bin der Herr dein Gott“ trägt die einzelnen Forderungen: „Du sollst“. Den ethischen Forderungen voraus geht das Angebot des Glaubens. Dieses Angebot eröffnet dem Menschen einen Sinnhorizont, verweist ihn auf einen Vertrauensgrund und gibt seinem Leben Orientierung und Halt. In der heutigen Sinnkrise könnte dieses Angebot angesichts des allgemeinen Vertrauensschwundes, der Angst vor der Zukunft, der Orientierungslosigkeit in der Gegenwart neues Vertrauen und Lebenszuversicht vermitteln. Aufgabe des christlichen Zeugnisses ist es, auf dieses Angebot hinzuweisen. Dieses Zeugnis kann nur ein Glaubenszeugnis sein und steht deshalb nicht im Aufgabenbereich politischen Handelns. Die sogenannte Grundwertekrise entzieht sich, soweit sie Sinnkrise und fundamentale Erschütterung der Lebenszuversicht ist, der politischen Zuständigkeit und politischen Antworten. Denn Glauben zu schaffen vermag allein das Evangelium. Darum gehört die Erinnerung an die erste Tafel des Dekalogs allein zum kirchlichen Auftrag.
Die zweite Tafel des Dekalogs, die mit dem 4. Gebot lutherischer Zählung beginnt, enthält hingegen allgemeinmenschliche Grundregeln und Grundforderungen. Der Verhaltensforscher Wolfgang Wickler hat eine „Biologie der Zehn Gebote“, 1971 verfasst. Die für sich betrachtete zweite Tafel des Dekalogs — eine Deutung die nach theologischem Verständnis freilich nur einen Teilaspekt des Dekalogs erfasst — enthält eine Summe allgemeinmenschlicher Einsichten und Verhaltenshilfen. Dabei zeigt es sich, dass der Dekalog eben in unseren Kirchen teilweise deshalb in Vergessenheit geraten ist, weil er lediglich im Katechismusunterricht zur Unterweisung der Kinder verwendet wird. Der Dekalog richtet sich hingegen seinem ursprünglichen Verständnis nach gerade an den freien, verantwortlichen Mann und verpflichtet ihn auf die Wahrung elementarer Grundsätze menschlichen Zusammenlebens (neben der Einschärfung religiöser und kultischer Vorschriften). Das sei nunmehr beispielhaft verdeutlicht, unter Zuhilfenahme sowohl exegetischer Erkenntnisse wie der Auslegungstradition der kirchlichen Überlieferung und in Beschränkung auf aktuelle Bezüge.
Das 4. Gebot „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“ ist in der lutherischen Auslegung verstanden worden als Anleitung zum Untertanengehorsam und als Begründung einer patriarchalischen Gesellschaftsordnung. Es gilt deshalb heute vielfach als antiquiert, da in der Neuzeit zwischen Eltern und Kindern ein partnerschaftliches Verhältnis getreten sei. In der Tat wird man diesen Einwand ernst zu nehmen haben. Aber er trifft eben nicht den Ursinn des Gebotes. Das Gebot verbietet im Alten Testament den „Elternfluch“, die Ausstoßung der alten Eltern aus dem Familienverband und damit ihre Verurteilung zum physischen und sozialen Tod. Nicht ohne Grund hat dieses Gebot als einziges eine Verheißung: „auf dass dir’s wohlergehe und du lange lebest auf Erden“. Diese Verheißung gilt nicht dem einzelnen Israeliten, sondern dem Volk Israel und seinem Bestand. Aktuell ist heute das 4. Gebot für uns unter den Stichworten „Generationenvertrag“ oder „Achtung und Schutz der Familie“, „Familienzusammenhalt“, die auf Wertvorstellungen aufmerksam machen, die auch politisches Handeln binden.
Das 5. Gebot „Du sollst nicht töten“ ist durch die Bergpredigt und Luther dahingehend verschärft worden, dass es nicht nur physische Tötung verbietet, sondern auch Hass und Neid untersagt und stattdessen Nächstenliebe gebietet. Seinem Ursinn nach richtet es sich gegen gemeinschaftswidriges Töten. Aktuell ist heute angesichts des Zerstörungspotentials, der Vernichtung von Lebensgrundlagen und Ressourcen eben nicht nur im Blick auf direktes Töten, sondern auch im Blick auf indirekte Lebensvernichtung und Lebensbeschädigung durch Entziehen, Zerstören und Vorenthalten von Lebenschancen und Lebensmöglichkeiten. Christen sollen dem wehren, was menschliches Leben zerstört und beeinträchtigt.
Das 6. Gebot „Du sollt nicht ehebrechen“ hat ursprünglich den Schutz der Institution der Ehe vor Augen. Angesichts vielerlei Infragestellung der Ehe heute ist dieses Gebot von besonderer Aktualität. Christen sollten beispielsweise dazu beitragen, dass Sexualerziehung mehr ist als bloße Information über biologische Fakten und dass sie zur Erziehung zur Ehe wird, zur Ehefähigkeit und zur Achtung der Institution der Ehe anleitet.
Das 7. Gebot „Du sollst nicht stehlen“ kann heute nicht nur auf den Schutz materieller Güter beschränkt werden, sondern bezieht sich auch auf immaterielle Güter: Versorgungsansprüche oder auch geistiges Gut fallen darunter. Es geht hier um die Ermöglichung der Lebenschancen des Mitmenschen, um die Wahrung der Entfaltungsmöglichkeiten des Anderen. So kann man dieses Gebot wiedergeben mit der Forderung: „Du sollst nicht zu deinem Vorteil auf Kosten deiner Mitmenschen leben“.
Das 8. Gebot „Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ bezieht sich zunächst auf die Rechtspflege. Es verpflichtet den Israeliten zu unparteilicher und objektiver Rechtswahrung als Zeuge. Es erlegt uns Heutigen die Achtung der Rechtsstaatlichkeit und eine objektive, allein Recht und Gerechtigkeit verpflichtete Rechtspflege auf. Luther hat dieses Gebot sodann in seiner Auslegung erweitert auf den Schutz des guten Rufes, der Ehre des Mitmenschen. Der gute Ruf, die Ehre sind soziale Güter. Wer sie verliert, wem sie genommen werden, ist gesellschaftlich geächtet. Die modernen Massenkommunikationsmittel haben bisher nicht gekannte Mittel der direkten Diffamierung und Diskriminierung Andersdenkender und Anderslebender wie indirekter Zerstörung von Ansehen und Anerkennung durch Veröffentlichungen aus dem persönlichen Bereich bereitgesteilt und nutzen sie auch oftmals. Luther hat zwischen dem „Wissen einer Sünde“ und dem „Richten der Sünde“ nicht ohne Grund unterschieden und gemeint, nicht jeder, der von der Sünde eines Anderen wisse habe auch das Recht, über sie öffentlich zu richten. Denn nur was öffentlich ist, dürfe man auch öffentlich richten. Das 8. Gebot ist gegenwärtig wohl eines der am wenigsten beachteten und bedachten Gebote, obwohl es dazu dienen will, die Gemeinschaft und die Integrität des Lebens zu schützen, indem es Lüge und Diffamierung als Gemeinschaft und Vertrauen zerstörende Verhaltensweisen kennzeichnet. Das Thema Politik und 8. Gebot wäre jedenfalls neue Aufmerksamkeit wert.
Im 9. und 10. Gebot „Du sollst nicht begehren“ wird zwar nach der Katechismustradition nicht ein Verhalten, sondern eine Gesinnung angesprochen. Ursprünglich wendet sich dieses Gebot aber freilich auch gegen unrechtmäßige Machenschaften und Manipulationen; es verbietet, wie Luther im Großen Katechismus ausdrückte, das „im Trüben Fischen“. Eine Gesellschaft des Anspruchsdenkens, der Interessenverfolgung auch auf Kosten der Allgemeinheit und zum Schaden anderer, ist auch diesem Gebot zu konfrontieren.
Diese wenigen Bemerkungen zur zweiten Tafel des Dekalogs zeigen wohl schon zur Genüge, wie diese uralten Gebote nach wie vor sinnvolle Regeln für das Zusammenleben des Menschen enthalten und nicht überholt sind. Sie setzen Maßstäbe eines menschlichen gemeinsamen Lebens in Frieden und Verantwortung.
Quelle: Evangelische Verantwortung, Heft 10 (Oktober), 1978, S. 6f.